Einholgeschwindigkeiten an der Küste



Als ich mit dem Meerforellenfischen Ende der 80er Jahre anfing, war das Bild eines Fliegenfischers an der Ostseeküste ein sehr seltenes. Ebenso spärlich waren gute Informationen über die verschiedenen Taktiken auf Meerforelle zu finden. Die meisten Berichte prädigten die Devise: "Meerforellen sind reine Fressmaschinen. Hat man sie gefunden, fängt man sie!" Ich selbst sammelte eine andere Erfahrung: Häufig waren Meerforellen an der Wasseroberfläche auszumachen, doch fangbar waren sie längst nicht so einfach.
Mitte der 90er Jahre erschien ein Manuskript "Meerforellenfliegenfischen in der Ostsee" von Rolf Grimme - einem Fliegenfischer aus dem Harz. In jenem Manuskript wurde unter anderem ein Kapitel "Fliegenführung" vorgestellt. Dies klang zunächst sehr verheißungsvoll! In jenem Kapitel wurden folgende Zahlen für unterschiedliche Einholgeschwindigkeiten beim Fliegenfischen präsentiert:

- sehr schnell = 1-2 Sekunden je Meter
- schnell = 4-5 Sekunden je Meter
- langsam= 8-10 Sekunden je Meter
- sehr langsam = 15 Sekunden je Meter

Umgerechnet in Meter pro Sekunde war dies:

- sehr schnell = 0,5-1,0 m/s
- schnell = 0,2-0,3 m/s
- langsam= 0,1-0,13 m/s
- sehr langsam = 0,07-0,1 m/s

Weiterhin wurde folgende Empfehlungen für die  Einholgeschwindigkeiten in Abhängigkeit der Jahreszeit und des Fliegenmusters gegeben:



Kurzum einzig im Sommer und Herbst und lediglich beim Fischen mit Reizfliegen wurde empfohlen, die Einholgeschwindigkeit sehr schnell - konkret zwischen 0,5 & 1,0 m/s - zu halten.
Diese Empfehlung warf für mich 3 Fragen auf:

1. Flüchtet die Meerforellennahrung also hauptsächlich maximal schnell, eher aber langsam und im Winter ausschließlich sehr langsam?

2. Wie schnell ist 1 m/s eigentlich?

3. 0,5 oder 1,0 m/s bedeutet eine Verdoppelung der Einholgeschwindigkeit - ist das praxisgerecht?






zu Frage 1:

Verhalten der Meerforellennahrung

Beantworten ließen sich die ersten zwei Fragen verhältnismäßig schnell, nämlich innerhalb eines ganzen Jahres. Zunächst  galt es, die Nahrung in den vier Jahreszeiten über das gesamte Wassertemperaturspektrum zu  studieren. Schnell wurde mir klar: Die Wahrheit ist beinahe eine Umkehr jener Tabelle.
Nahrungstiere wie Sandaale, Heringe, Garnelen und viele mehr flüchten nicht schnell und nicht sehr schnell, sondern extrem schnell, nämlich in weit mehr als der maximal möglichen Einholgeschwindigkeit von uns Fliegenfischern. Oft konnte ich nicht einmal sehen, wohin sie flüchteten, so schnell waren sie. Auch flüchtende Garnelen ließen sich z.B. nicht annähernd mit der Hand fangen, weil sie viel zu schnell waren. Eine Ausnahme bildeten die Tangläufer und einige wenige ähnlich kleine Nährtierchen. Genau diese aber machten nicht gerade den Hauptanteil der Meerforellennahrung aus. Nein, auch nicht im Winter!

zu Frage 2:

Einholgeschwindigkeit im Vergleich

1 m/s war meiner Einschätzung nach seinerzeit für 99% der Küstenfliegenfischer tatsächlich SEHR SCHNELL. Die allermeisten Fliegenfischer holten ihre Fliegen deutlich langsamer ein. Mir selbst wurde im Laufe der Folgejahre erfahrungsbasierend zügig klar:
Sehr schnell ist erheblich fangträchtiger als nur schnell. Sehr langsam führte hingegen zu beinahe unzähligen Nachläufern (Meerforellen, die der Fliege folgen) und häufig zum Verweigern des Nehmens meiner Muster.
Die logische Konsequenz war die Entwicklung immer effektiverer Einholmethoden, um meine Fliegen dauerhaft extrem schnell einholen zu können.
Extrem schnell? Ja, so wie sich die Nahrung auf der Flucht um ihr Leben zeigte. Noch einmal: Auch im Winter!
Wovon ich und alle Küstenfischer, mit denen ich im Laufe der Jahre sprach, stets ausgingen, war eine deutlich höhere Einholgeschwindigkeit bei Spinnfischern und eine noch höhere beim Trolling auf hoher See.






weiterhin zu Frage 2:

Echte Zahlen im Überblick


Und damit lagen wir alle falsch! Alex und ich haben nun (im Sommer 2014) die Einholgeschwindigkeiten konkret gemessen und in einen Vergleich gestellt. Dieser Vergleich brachte einige Überraschungen:

1.  Meine eigene (vergleichsweise sehr hohe) Einholgeschwindigkeit ist durchaus mit der durchschnittlichen Einholgeschwindigkeit vieler Spinnfischer vergleichbar!

2. An der Küste werden die Köder teilweise mit mehr Geschwindigkeit geführt, als dies viele Trollingboote tun!

3.  Mit der Methode des Fliegenrute unter den Arm klemmen und mit beiden Händen abwechselnd Einholens erreicht man (aufgrund der vergleichsweise kurzen Zuglänge) nicht mehr als 1 m/s.

Nachfolgend unsere konkreten Meßergebnisse:

zu Frage 3:

Verdoppelung der Einholgeschwindigkeit?

Wenn man die Methode des Einholens verändert, ist eine Verdoppelung der Einholgeschwindigkeit von 0,5 auf 1,0 m/s tatsächlich realistisch.









Erkenntnisse

Natürlich ist eine extrem hohe Einholgeschwindigkeit (> 1,5 m/s) keine unbedingte Voraussetzung, um eine Meerforelle fangen zu können. Allerdings bringt sie einige klare Vorteile im Hinblick auf den Fangerfolg mit sich:

1. Viele Meerforellen, die sich bei langsamen Einholtempo nicht animieren lassen, nehmen jetzt die Fliege.

2. Die Anbisse erfolgen erheblich kräftiger, was zumeist einen besseren Sitz des Hakens zur Folge hat.

3. Der Haken wird direkt über das rasante Einholen per Schnurzug gesetzt. Auch dies führt zu deutlich weniger Aussteigern.

4.  Insbesondere die großen Meerforellen reagieren auf sehr schnelle Fliegen erheblich positiver.

5. Erst jetzt spielen viele große Fliegen Ihre Fängigkeit voll aus.

Der Weisheit letzten Schluß

Am wichtigsten bleibt das Abstimmen von zur Verfügung stehender Wurfweite, der Einholgeschwindigkeit und der Fliege - konkret, wie leicht die Fliege für den Fisch als "unecht" zu erkennen ist. Große Fliegen führen bei niedriger Geschwindigkeit oft zu Nachläufern. Tauscht man nun die große Fliege gegen ein kleineres, unscheinbareres  Exemplar aus, so steigert dies häufig unmittelbar den Fangerfolg. Ggf. passen eine geringe Wurfweite und eine nicht ganz so hohe Einholgeschwindigkeit über den ganzen Angeltag sicherlich besser zusammen. Eine höhere Einholgeschwindigkeit bleibt jedoch sehr oft DER beste Schlüssel zum Fangerfolg! Oft hörte ich: "Das schnelle Einholen ist mir zu anstrengend." Verständlich - dennoch war diese Anstrengung im Moment des Anbisses zumeist schnell vergessen.
Ich empfehle, gerade die ERSTEN Würfe an einem neuen Platz sehr schnell einzuholen. Kurzfristig ist dies wenig anstrengend. Ich meine, dies ist immer einen Versuch wert!?
Herzlich Euer
Bernd Ziesche




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